
Ein Kommentar von Christoph Seeger
Chefredakteur
Woran denken Sie, wenn Sie sich an Ihr Abitur erinnern? Klar: Wahnsinnig viel lernen, endlos lange Klausuren schreiben, die (vielleicht) erste mündliche Prüfung Ihres Lebens. Aber fällt Ihnen das als Erstes ein? Ich denke eher an die Abifahrt, zwei Wochen Toskana mit den Lieblingslehrern, viel Kultur und viel Wein. Ich denke an die Nacht in der Schule, als wir einen VW Käfer auf den Flur vors Lehrerzimmer gestellt und ihn mit gefühlt 10.000 aufgeblasenen Luftballons getarnt hatten, so dass am nächsten Tag für alle die Schule ausfiel. Ich denke an den Abiball, das erste Fest im Anzug, stolze Eltern und Aufbruchstimmung. Und ich denke an einen verrückten Sommer, Partys, Reisen mit Freunden und dann die Fahrt in eine neue Stadt zum Studium.
All das erleben die Abiturient*innen der Jahrgänge 2020 und 2021 nicht.
Der aktuelle Jahrgang hatte zuletzt vor Monaten regulären Unterricht in der Schule. Alles, bis auf das Schreiben von Klassenarbeiten, findet für die meisten nur digital von zu Hause aus statt. Mündliche Noten werden durch Hausarbeiten ersetzt, Gruppenarbeit gibt es – wenn überhaupt – nur virtuell. Und das Abizeugnis? Das werden sich die Absolvent*innen mit FFP2-Masken und 2-Meter-Sicherheitsabstand vielleicht in der Turnhalle abholen können. Vielleicht bekommen sie es aber auch per Post zugeschickt. Partys, Bälle, Reisen, aber auch Praktika, Sprachkurse, ein soziales Jahr im Ausland? Alles Fehlanzeige.
Und dann? Viele, die im Wintersemester 2020/2021 ihr Studium begonnen haben, haben die Hochschule noch gar nicht von innen gesehen. Sie bekommen mal mehr, mal weniger gute digitale Vorlesungen geboten, sie haben in der neuen Stadt noch keine neuen Leute kennengelernt, sie können ihr Pflichtpraktikum nicht planen, sie können keinen Nebenjob antreten, sie wissen nicht einmal wie das Essen in der Mensa schmeckt. Und vor allem erleben sie den neuen Abschnitt in ihrem Leben nicht als Aufbruch, sondern als Zeit der Unsicherheit und Perspektivlosigkeit.
„Und vor allem erleben sie den neuen Abschnitt in ihrem Leben nicht als Aufbruch, sondern als Zeit der Unsicherheit und Perspektivlosigkeit.“
Kein Zweifel: Die Corona-Pandemie und die dadurch bedingten Einschränkungen unseres Lebens verlangen uns allen viel ab. Wir nehmen das in Kauf, weil es darum geht, Gesundheit und Leben unserer Mitbürger zu schützen. Alte Menschen sind besonders betroffen. Sie leiden unter den Einschränkungen, fühlen sich einsam. Viele berufstätige Erwachsene sind seit Monaten im Home Office, arbeiten unter völlig neuen Bedingungen. Andere sorgen sich um ihre Existenz, oder verdienen als Selbstständige seit Monaten gar kein Geld mehr. In Familien müssen die kleinen Kinder zu Haus betreut werden und vor allem die jungen Schulkinder brauchen Unterstützung beim digitalen Lernen.
Ich will die Nöte und Sorgen vieler Menschen keineswegs verharmlosen. Aber es ist gut, dass der Blick von Politik und Gesellschaft sich nun langsam auch auf die jungen Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden richtet. Meist haben wir sie während der Pandemie als Gefahr gesehen, als Verbreiter des Virus verunglimpft. Und geschimpft haben wir über sie. Sobald ein paar junge Leute dieser Altersgruppe sich irgendwo trafen, hieß es: Die haben es wohl immer noch nicht verstanden.
Dabei haben sie es sehr gut verstanden. Sie haben diszipliniert auf digitales Lernen umgestellt, sie nehmen Rücksicht auf die Alten, sie verzichten seit Monaten auf persönliche soziale Kontakte, sie sitzen stundenlang in Klausuren im Winter bei geöffneten Fenstern, dürfen die Masken dabei nicht abnehmen, nicht essen und nicht trinken. Sie verzichten auf Sport, Freizeit, Spaß und Reisen.
Ich finde für diejenigen, die an der Schwelle zu etwas Neuem in ihrem Leben stehen, ist die Situation besonders schlimm. Eines von 40 Berufsjahren mit Einschränkungen zu erleben, ist nicht schön, aber es ist auch nur ein Jahr von vielen. Abi macht man nur einmal. Das erste Semester in einer neuen Stadt ist eine einmalige Erfahrung. Selbstständig sein. Ohne Eltern klarkommen. Erwachsen wird man nur einmal im Leben.
Wie werden Soziologen diese Generation einmal nennen? Hoffentlich nicht die verlorene Generation. Wir sollten uns dringend mit diesen jungen Leuten beschäftigen. Wir sollten uns fragen, welche Hilfe sie brauchen, wie wir sie unterstützen können. Sie sind die Zukunft unseres Landes.