Ein Gespräch mit Nils-Viktor Sorge, Teamleiter Mobilität bei DER SPIEGEL.

CHALLENGE: Seit Beginn der Pandemie wird viel über das Home Office geredet. Droht eine der großen Herausforderungen unserer Zeit, die Verkehrswende, in Vergessenheit zu geraten? Wo steht Deutschland beim Thema Mobilität heute?
Sorge: Die Corona-Krise hat natürlich einiges in Bewegung gebracht. Die Leute fahren nicht mehr wie früher ins Büro, sie haben Angst vor Ansteckung. Die Nutzung der Verkehrsmittel hat sich während der Pandemie verändert. Wie die Welt nach der Krise aussehen wird, ist nicht klar. Aber manche Themen sind in den Fokus geraten, zum Beispiel die Neuaufteilung des Raumes in der Stadt. Die Menschen nutzen zurzeit weniger öffentliche Verkehrsmittel, sie weichen aufs Auto und aufs Fahrrad aus. Gerade der Fahrradverkehr ist deutlich gestiegen. Da wird etwas passieren. Denn beim Thema Fahrrad gibt es in vielen Städten klare politische Mehrheiten. Dass heißt, wir werden künftig mehr Raum für die Fahrradfahrerinnen und -fahrer in Städten haben.
Zur Person
Nils-Viktor Sorge: Studium der Politischen Wissenschaft. Von 2008 bis 2018 als Redakteur und Reporter bei manager magazin online mit den Schwerpunkten Mobilität und Energie.
Seit Juli 2018 bei SPIEGEL ONLINE Redakteur im Ressort Mobilität, ab November 2018 stellvertretender Ressortleiter Mobilität, seit Juni 2019 Teamleiter Mobilität im Ressort Wissenschaft.
CHALLENGE: Es gibt das Phänomen der so genannten Popup-Radwege, bei dem kurzerhand mit Hütchen ein Teil der Straße abgesperrt und zum Radweg erklärt wurde. Ist das schon ein Konzept?
Sorge: Das allein noch nicht, aber es passiert ja noch mehr. In Hamburg ist ein Netz von Velorouten geplant und teilweise schon im Bau. Das Pendeln mit dem Rad soll so erleichtert werden. Berlin ist sicher ein Vorreiter. Zunächst werden wir schon noch einige dieser Popup-Radwege sehen. Aber dahinter steckt auch eine Strategie und in gewissem Sinn ein Wettbewerb. Denn in Europa und auch im Rest der Welt experimentieren Metropolen mit neuen Konzepten für den Radverkehr, gelten dann als modellhaft und finden ihre Nachahmer. Es lässt sich nicht immer alles ein zu eins übertragen, aber es wird viel international voneinander gelernt. Da gerät einiges in Bewegung. Es ist einfach ein echtes politisches Gewinnerthema.
„Und niemand wird den Bürgern sagen: Da dürft ihr jetzt nicht mehr mit dem Auto hinfahren.“
CHALLENGE: Trotzdem bleibt das Auto offensichtlich sehr wichtig. Nach der Pandemie wird der Autoverkehr Schätzungen zufolge wieder auf einem ähnlichen Niveau sein wie zuvor. Da geht es nun vorrangig um die Technik. Alles setzt scheinbar auf Elektromobilität. Sind andere Konzepte, hybride Antriebe oder Wasserstoff, aus dem Rennen?
Sorge: Wir haben jahrzehntelang eine Politik gemacht, die ganz stark aufs Auto ausgerichtet war, mit Baugebieten in ländlichen Regionen und mit Gewerbe und Einkaufsmöglichkeiten auf der grünen Wiese. Das geht natürlich nicht in ein paar Jahren weg. Und niemand wird den Bürgern sagen: Da dürft ihr jetzt nicht mehr mit dem Auto hinfahren. Deshalb spielen im Hinblick auf Umweltschutz und Klimawandel die Antriebsarten eine wesentliche Rolle. Bei den batterieelektrischen Antrieben sind zurzeit die größten Fortschritte und auch Ankündigungen zu sehen, zumindest, wenn es um PKW geht. Ein ganz praktischer Grund dafür: Strom gibt es einfach schon überall. Für viele ist es sehr praktisch, das Auto zu Hause aufladen zu können. Das ist ein Zugewinn an Autonomie. Wasserstoff hat es da einfach schwerer. Er ist teurer, nicht überall verfügbar und umständlicher in der Handhabung. Das kann sich entwickeln. Aber von den jetzigen Vorrausetzungen hergesehen, ist beim Thema Batterie wahnsinnig viel ins Rollen gekommen, das auch nur schwer aufzuhalten sein wird.
CHALLENGE: Die meisten Deutschen leben in kleinen Städten und auf dem Land, nicht in Metropolen wie Hamburg, München und Berlin. Diese Menschen sind häufig viel stärker auf das Auto angewiesen als Städter. Ist das nicht ein gewaltiger Nachteil, wenn wir Verkehr ökologischer gestalten wollen?

Sorge: Im Grunde gibt es darauf zwei Antworten. Zum einen sind batterieelektrische Fahrzeuge auch für die Landbevölkerung hervorragend geeignet. Die Reichweiten sind mit 300 bis 400 Kilometern für die alltäglichen Wege vollkommen ausreichend. Mehr brauchen die meisten Leute nicht. Viele können zudem ihr Auto zuhause aufladen und müssen nicht an einer Laterne parken wie in der Stadt. Insofern sind Elektroautos für ländliche und suburbane Gebiete eigentlich ziemlich perfekt. Das zweite ist etwas abstrakter. Es geht dabei um Digitalisierung und im weiteren Sinne um neue Formen des öffentlichen Verkehrs. Mit Hilfe von Smartphones und entsprechender, intelligenter Software lassen sich Menschen viel einfacher miteinander verbinden als früher. Was wird daraus? Experten sprechen von Ride-Pooling, was bedeutet, dass Menschen sich für Fahrten in Kleinbussen zusammenfinden...
CHALLENGE: ...früher nannte man das Fahrgemeinschaften bilden...
Sorge: Ja, es ist die moderne Fahrgemeinschaft, die aber über das Smartphone komfortabel funktioniert, auch im Hinblick auf Abrechnungen und kurzfristige Ersatzfahrten. Da bedarf es allerdings noch einer kritischen Masse, bevor es genug Angebot und Nachfrage gibt. Bis dahin ist das ein hoch bezuschusstes Geschäft, bei dem der Staat überlegen muss, inwieweit er bereit ist in Vorleistung zu gehen. Es könnte dabei um ein ganz neues System gehen. Denkbar ist aber auch eine Erweiterung des Öffentlichen Nahverkehr durch „kleinere Gefäße“, wie Fachleute sagen. Da gibt es auf jeden Fall Potential für Innovationen.
CHALLENGE: Diese Kleinbusse fahren ja zum Beispiel in Indonesien schon sehr lange und funktionieren wie eine Art Sammeltaxis. Ist das die Fahrzeuggröße der Zukunft für dieses Angebot?
Sorge: In diese Richtung könnte es gehen. Kurzfristig auch deshalb, weil, wer bis zu acht Personen befördert, noch keinen Busführerschein benötigt. Mittel- und langfristig geht es bei dieser Verkehrsform dann natürlich auch um autonome Fahrzeuge, die in dieser Größe geeignet sind, Dörfer besser anzubinden an den ÖPNV oder gleich an die nächste Stadt. Das würde erheblich Geld sparen im Vergleich zum heutigen Modell. Kostendeckend wäre das Ganze vermutlich erst, wenn autonomes Fahren möglich ist.
CHALLENGE: Wann sehen wir denn die ersten selbstfahrenden Busse auf deutschen Straßen?
Sorge: Das wird dauern. Es ist technisch vielleicht schon eher abzusehen, aber rechtlich und versicherungstechnisch sind noch viele Fragen offen. Eine Prognose fällt mir schwer. Vor 2030 halte ich es für nahezu ausgeschlossen, zumindest im Regelbetrieb und im normalen Verkehr.
CHALLENGE: Stichwort ÖPNV. Der Öffentliche Nahverkehr hat während der Pandemie massiv gelitten. Wird er eine Renaissance erleben, wenn wir die Krise überstanden haben? Oder bleibt bei den Menschen eine Skepsis gegenüber dieser Massenbeförderung?
„Das heißt, genau in diesem Moment, wo gar nichts los ist auf der Schiene und in den Bussen, fließt so viel Geld wie vielleicht nie zuvor in den öffentlichen Verkehr.“

Sorge: Das ist eine sehr aktuelle Frage, die sich derzeit viele Menschen stellen, in den Verkehrsbetrieben, aber auch in Unternehmensberatungen und Forschungsinstituten. Tatsächlich gehen die meisten davon aus, dass die Fahrgäste zurückkommen. Wenn wir den Impfstoff in ausreichender Menge haben, wenn wir wieder das Vertrauen haben, anderen Menschen zu begegnen, zum Beispiel in Fußballstadien und bei Konzerten, dann kommt auch der ÖPNV wieder in Schwung. Als Unsicherheitsfaktor bleibt, wie viele Menschen künftig im Home Office arbeiten werden. Zurzeit werden ja enorme Investitionen in den ÖPNV und in die Bahn bundesweit getätigt, in den Ausbau des Streckennetzes, in neue Fahrzeuge, Busse und vieles mehr. Das heißt, genau in diesem Moment, wo gar nichts los ist auf der Schiene und in den Bussen, fließt so viel Geld wie vielleicht nie zuvor in den öffentlichen Verkehr. Es muss also auch irgendwie funktionieren. Mal sehen, welche Maßnahmen wir da sehen werden, mit denen die Anbieter die Fahrgäste zurückholen wollen.
CHALLENGE: Eine letzte Frage zum Thema Flugverkehr. Als Mallorca vor Ostern von der Liste der Risikogebiete gestrichen wurde, waren binnen kurzem alle Flüge ausgebucht. Das sieht nicht gerade wie ein Umdenken zu umweltfreundlicherem Reisen aus. Werden wir nach der Krise wieder genauso viel fliegen wie zuvor?
Sorge: Da wird es glaube ich ein bisschen länger dauern als beim ÖPNV oder bei der Bahn. Je nach Strecke war beim Fliegen der Anteil der Geschäftsreisenden sehr groß. Auf der Route nach Mallorca gilt das sicherlich nicht. Das heißt, bei Urlaubsreisen gibt es wahrscheinlich einen starken Nachholeffekt. Auf klassischen Verbindungen für Geschäftsreisende wird es für die Airlines schwieriger. Viele Unternehmen wägen heute genau ab, welche Dienstreisen in Zukunft wirklich noch notwendig sein werden. Die neue, große Routine im Umgang mit Videokonferenzen tut ihr übriges. Die Managerinnen und Manager wissen jetzt, dass man deutlich mehr schafft, wenn man manche Termine als Video-Calls stattfinden lässt.