
Ein Kommentar von Christoph Seeger
Chefredakteur
Es war im Frühjahr. Die Krise war gerade über uns gekommen und die meisten Menschen waren verwirrt und verängstigt angesichts der Maßnahmen, die das Virus eindämmen helfen sollten. Schon nach wenigen Wochen wurden Stimmen laut, die vom Anbruch einer neuen Zeit sprachen. "Die Welt wird nach Corona eine andere sein", hieß es. Gemeint war damit: Wir werden anders arbeiten, wir werden das Reisen überdenken, alles wird digitaler, wir werden solidarischer im Umgang miteinander, wir werden uns nie mehr die Hände schütteln zur Begrüßung und vieles mehr.
Aussagen, die als alternativlos hingestellt werden, wecken immer Zweifel bei mir. Die Welt wird eine andere sein? Gut. Die Welt ist in permanentem Wandel. Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel verändern unseren Alltag seit geraumer Zeit und in einem scheinbar immer schnelleren Tempo. Aber werden sich die Menschen ändern? Ich weiß nicht recht. Wir Menschen verändern uns nur langsam. Wir lieben das Bestehende und fürchten das Neue. Wir schätzen Routine und Bekanntes.
Und doch weist einiges darauf hin, dass wir mitten in einer großen Transformation stecken.
„Die Pandemie und ihre Folgen wirken wie ein Katalysator. Sie beschleunigen den dringend notwendigen Wandel in vielen gesellschaftlichen Bereichen.“
Wenn wir dieses Tempo mitnehmen, wird sich vielleicht nicht die Menschheit grundlegend ändern, aber wir können große Schritte in Richtung einer gerechteren und verantwortungsvolleren Gesellschaft machen. Einige Beispiele.
Arbeiten und Leben: Über das mobile Arbeiten wird schon lange diskutiert. Die Unternehmen handhabten die Möglichkeiten des Homeoffice allerdings sehr unterschiedlich. In einigen Firmen hatten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon länger keinen eigenen Schreibtisch und keine festen Anwesenheitszeiten mehr. In anderen Betrieben war mobiles Arbeiten weder erwünscht noch erlaubt. Nun scheint das sogenannte hybride Arbeiten zum Standard zu werden. Wie viel Zeit im Büro und wie viel Zeit von zu Hause oder von unterwegs gearbeitet wird, wird in vielen Branchen neu definiert. Gut so. So wird Arbeit selbstbestimmter, die Produktivität steigt, und die neue Flexibilität macht es Müttern und Vätern leichter, Familie und Job zu vereinen.
Kommunikation und Reisen: Viele von uns sind durch die Krise zu Experten in digitaler Kommunikation geworden. Ob Gespräche zu zweit, Sitzungen im Team, Workshops, Vertragsverhandlungen oder Konferenzen. All das kann und wird online erledigt werden. Physische Treffen bleiben wichtig, und es wird sie weiter geben. Aber sie haben einen anderen Stellenwert als früher. Morgens zu dritt zu einem einstündigen Meeting von Hamburg nach München zu fliegen und abends wieder zurück. Das wird künftig eher die Ausnahme als die Regel sein. Viele Konzerne haben angekündigt, die Zahl der Dienstreisen um bis zu 50 Prozent zurückzufahren. Das ist schlecht für die Verkehrsanbieter, aber gut für die Menschen und die Umwelt. Auch im privaten Reisen zeichnet sich ein Wandel ab. Nicht jeder Urlaub muss in die Ferne gehen.
Bildung und Wissen: Die Eltern arbeiten von zu Hause, die Kinder lernen zu Hause statt in der Schule. Das war für Monate Alltag in vielen Familien. Es hat mal besser, mal schlechter geklappt. Auf keinen Fall sollte es ein erzwungener Dauerzustand sein. Aber es hat unsere Defizite beim digitalisierten Lernen auf erschreckende Weise aufgedeckt. Und gezeigt, welche Möglichkeiten wir bisher ungenutzt lassen. Nun sollen alle Lehrer vom Staat einen Computer gestellt bekommen und ihn sich nicht mehr selbst privat kaufen müssen. Nun sollen alle Schülerinnen und Schüler ebenfalls mit der nötigen Hardware zum digitalen Lernen ausgestattet werden. Gut so. Der Zugang zum Internet und die Möglichkeit, am Computer zu lernen und sich zu bilden, sollten Grundrechte sein und dürfen nicht vom Einkommen der Eltern abhängen. Und Professoren, die es auch nach einem halben Jahr noch nicht schaffen, digitale Vorlesungen anzubieten, sollten von den Universitäten zu entsprechenden Weiterbildungen gezwungen werden. Diese Digitalisierungsoffensive ist dringend notwendig, um den nachfolgenden Generationen die Zukunftschancen zu sichern.
Auf vielen anderen Feldern sieht es derzeit ähnlich aus. Es werden die richtigen Fragen gestellt und dann hoffentlich die richtigen Konsequenzen gezogen. Wie kann unser Gesundheitssystem effizienter und für die Mitarbeiter und Patienten gerechter werden? Welche Landwirtschaft ist zukunftsfähig? Wie wollen wir uns gesund und nachhaltig ernähren? Wie gehen wir mit den alten Menschen in unserem Land um?
Die Welt nach Corona kann eine andere sein. Vielleicht nicht die ganze Welt. Aber jede einzelne Verbesserung zählt. Damit es so kommt, müssen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam nach neuen Lösungen suchen. Und wir müssen die Chancen jetzt ergreifen. Der Wunsch, zur alten Normalität zurückzukehren, ist verständlich, aber er darf dem notwendigen Wandel nicht im Wege stehen.